Auf meinen kürzlichen 63. Geburtstag habe ich eine launige Glückwunschkarte erhalten mit der Überschrift «Nur Mut – das Alter ist nichts für Feiglinge!». Beim Gedanken, alt zu werden, denken wir ja in der Regel eher an die Zumutungen und Einschränkungen, die uns das Altern aufbürdet und weniger an die damit auch einhergehende Freiheit, die wir mit dem Älterwerden erlangen können. Und doch: Etwas Mut braucht es schon, um gut älter zu werden.
Ingrid Riedel schreibt in ihrem Buch «Die innere Freiheit des Alterns» sehr treffend, dass, wie bei jedem guten Spiel, die zweite Spielhälfte, ja vielleicht die letzten 15 Minuten entscheidend dafür sind, ob ich das Spiel, mein Spiel des Lebens, als verloren oder gewonnen erlebe. Die Erkenntnis, dass es um die entscheidenden Jahre meines Lebens geht, macht die späteren Jahre so einmalig, so kostbar.
Im dritten Drittel unseres Lebens geht es darum, was wir in diesen Jahren zu unserem Lebensinhalt machen, was wir noch unbedingt bewirken und erleben wollen. Und spätestens im dritten Drittel geht es darum, in die ureigene Lebensspur zu finden und dabei das bisher erlebte in eine Gesamtschau zu integrieren. Das heisst auch, weniger das Leben zu leben, das andere von uns erwarten, und mutig mehr auf meine eigenen Bedürfnisse zu hören, im Wissen, dass ich letztlich dafür verantwortlich bin, welche Entscheidungen ich getroffen habe in meinem Leben oder eben nicht getroffen habe.
Wie immer sich unser Lebensabenteuer gestaltete, was immer wir machten in unserem Leben, ab einem gewissen Punkt geht es darum, die Ernte einzufahren. Und das gilt ganz besonders für die Menschen zwischen 60 bis 75, welche heute als «junge Alte» bezeichnet werden. Für diese Altersgruppe ist zwar nicht mehr alles, aber noch sehr viel möglich. Die «jungen Alten» haben ein Zeitfenster, um «verpasste» Träume nachzuholen, nochmals etwas Neues zu wagen, dem eigenen Leben nochmals einen neuen Tiefgang zu geben.
Nachdem wir in jüngeren Jahren häufig getrieben waren von sozialen Erwartungen, beruflichen Konventionen und familiären Verpflichtungen, bietet uns die «Altersfreiheit» die Möglichkeit, endgültig zum Gestalter, zur Gestalterin des eigenen Lebens zu werden.
Zur Erntephase des Lebens gehört auch der Blick zurück, die Erinnerung an ein ausgefüllt gelebtes Leben – möglichst in Dankbarkeit für alles, was einem das Leben schenkte, mit allen Höhen und Tiefen, allen erfüllenden, anspruchsvollen und lehrreichen Erfahrungen, Beziehungen, Begegnungen. All das hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind.
Älter werden geht einher mit der ständigen Aufforderung loszulassen. Insbesondere gehört der oft nicht einfache Rückzug aus dem Berufsleben dazu, der damit vielleicht empfundene Bedeutungs- und Identitätsverlust, die abnehmenden sozialen Kontakte aus dem beruflichen Kontext und möglichweise auch die nicht mehr vorhandene geregelte Tagesstruktur. Und wer bin ich noch, wenn ich nicht mehr erwerbstätig, nicht mehr beruflich aktiv bin? Dieser Übergang und Rückzug aus den bisherigen Aktivitätsfeldern kann aufgewogen werden durch einen bewussteren Umgang mit meinen inneren Bedürfnissen und den entsprechenden Weichenstellungen und Neuorientierungen in meinem dritten Drittel.
Gut und gern älter werden heisst: Die zeitliche Begrenzung akzeptieren, die Erntephase des Lebens auskosten, sein eigenes gelebte Leben annehmen und Dinge loslassen, die jetzt nicht mehr wichtig sind. Die amerikanische Publizistin Betty Friedan brachte das schön auf den Punkt: «Alter ist kein Defizit – Alter ist ein Geschenk.» Ich freue mich auf und über dieses Geschenk.
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